Wenn der Albtraum einen Namen hat

Vor seinem Gesicht hält er schützend eine verspiegelte Mappe. Kurzes Blitzlichtgewitter – die Journalist*innen ziehen sich langsam zurück und die Verhandlung im Amtsgericht Tiergarten kann beginnen. Es ist der erste Gerichtstermin im Fall Rene B. Kaum vorstellbar, dass der Mann im roten „Coca-Cola“-Pullover ein Verbrecher ist. Rene B., der Vater zweier Kinder, die in Pflegefamilien aufwachsen, arbeitslos und obdachlos: Und nun auch bald hinter Gittern?

Wir schreiben den 23. April 2016: Laut Anklage ist der Verdächtige Rene B. im Berliner Wedding unterwegs, bis er an der Wohnungstür einer flüchtigen Bekannten klingelte. Mit dem Vorwand, seinen eigenen Schlüssel vergessen zu haben und dringend auf die Toilette zu müssen, lässt sich die Frau auf die Bitten des Täters ein. In der Wohnung ändert sich dann schlagartig der Ton von Rene B.: „Blas mir einen oder sonst stirbst du!“ Eine Drohung, die er mit körperlicher Gewalt in Form von Schlägen mit der Faust und der flachen Hand ins Gesicht und dem Nacken des Opfers unterstreicht. Der Vorwand, ein Kondom holen zu müssen, erbringt nicht die erhoffte Freiheit. Denn währenddessen versucht er, ihr Gesicht in seinen entblößten Schritt zu drücken. Der Lärm weckt den Sohn des Opfers und dieser schreitet bewaffnet mit einem Küchenmesser dazwischen, und rettet somit seine Mutter.

Während die Anklage verlesen wird, vergräbt Rene B. sein Gesicht in seinen Händen. Er will mit niemanden Blickkontakt aufnehmen, schämt sich anscheinend für seine Taten. Im Verhandlungssaal äußert der mutmaßliche Täter sich nicht zu dem Vorfall. Seine Verteidigerin vertröstet die Anwesenden auf eine Aussage zu einem späteren Handlungstermin. Einer von womöglich vielen.

Laut der Süddeutschen Zeitung ist dieser Fall keine Seltenheit. Jede dritte Frau in Europa hat als Erwachsene körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren. Das ist das Ergebnis einer EU-Studie aus dem Jahr 2014, bei der 42 000 Frauen befragt wurden. Nur rund 16 Prozent davon bringen diese Delikte auch zur Anzeige. Denn wenn der Albtraum in Person vor einem steht, ist für viele Frauen Verdrängung die beste Lösung. Scham und Angst sind die häufigsten Gründe für diese Entscheidung. Doch warum scheint es für uns Bürger*innen so, dass diese angezeigten Verbrechen entweder gar nicht oder zu Milde bestraft werden? „Die Nachweisbarkeit einer Vergewaltigung oder eines sexuellen Missbrauches ist komplizierter als bei Eigentumsdelikten“, sagt Lisa Jani, Richterin und Pressesprecherin des Amtsgerichts Tiergarten. „Im Zweifelsfall ist es immer besser, einen Schuldigen laufen zu lassen, als einen Unschuldigen für viele Jahre ins  Gefängnis zu bringen.“

von Melanie Köppel